Ein Land der Finsternis - Von der dunklen Seite Irlands

Es gibt sie in ganz Europa, in der Geschichte jedes Landes: dunkle Flecken, Zeugnisse der Schande und des Unvermögens einer Gesellschaft, hinzusehen, das richtige zu tun, füreinander einzustehen. Die Verbrechen Deutschlands, ALLER Staaten auf deutschem Boden, stechen natürlich hervor, aber auch die institutionalisierte Fremdenfeindlichkeit Frankreichs, oder das verschweigen, ja sogar bejubeln der braunen Vergangenheit Österreichs sind derartige dunkle Flecken. All dies findet sich in Europa, und in jedem anderen Land der Erde.
Und in jedem dieser Länder kommt früher oder später der Zeitpunkt an dem man sich fragen muss: Wie soll es weitergehen? Können wir als Gesellschaft weiter so tun, als sei nichts gewesen? Können wir die dunklen Schatten ignorieren, die sich ganz klar abzeichnen? Oder stehen wir endlich auf, gestehen uns ein, das wir eine Lüge gelebt haben, und bekennen uns zu den Sünden, zu den Verbrechen, die begangen wurden?
Am heutigen Tag stand Irland an diesem Punkt. Es ging um das Schicksal tausender junger Frauen und Mädchen in den sogenannten Magdalenenheimen. Was sich erst einmal harmlos anhört, entpuppt sich bei näherem hinsehen als ein perfides Netz an Arbeitslagern, das in Irland seit dem 19. Jahrhundert existierte. Diese Heime, betrieben von einem Kartell von vier religiösen Orden, waren ursprünglich als Schutzräume für schutzlose Frauen entstanden. Im Laufe der Zeit ging dieser Charakter immer mehr verloren. Aus den Heimen wurden immer mehr Gefängnisse, betrieben von Nonnen, deren Glaube, nur durch Härte könne man einen Menschen zum besseren erziehen, sie zu einem immer strikteren Regime trieb.
Da diese Heime nicht der Staatlichen Gewalt unterstellt waren, bedurfte es keiner besonderen Bedingungen, um eine Frau, oder ein Mädchen in diesen Einrichtungen unterzubringen. So wurden diese Heime zu einem Endlager für die Frauen und Mädchen, die von der Gesellschaft nicht aufgenommen werden konnten, oder die in der Gesellschaft unerwünscht waren. Ihnen allen wurde das Stimga von "gefallenen Frauen" aufgedrückt, ein Stigma des Versagens. Denjenigen, die durch die Tore eines solchen Heims, nein, Lager trifft es besser, traten, erfuhren oft nicht, weshalb sie dorthin gebracht wurden. Und wenn kein Verwandter oder Freund außerhalb der Einrichtungen für einen bürgen konnte, war man diesen Lagern für den Rest des Lebens ausgeliefert.
Als ob dies nicht schon schlimm genug wäre, wurden diese Mädchen und Frauen in den Magdalenenlagern systematisch ihrer Identität und Würde beraubt. Man gab ihnen neue, willkürliche Namen, oder gar nur Nummern, zwang sie zu schwerer körperlicher Arbeit ohne Bezahlung oder passende Versorgung, setzte sie der Willkür der Aufseherinnen aus, und bestrafte sie selbst bei kleinsten Verstößen drakonisch. Körperliche Misshandlungen waren in diesen Lagern an der Tagesordnung, und nicht wenige Überlebende berichten, das es auch zu sexuellem Missbrauch kam, das sie als "Gefälligkeit" bestimmten einflussreichen Persönlichkeiten übergeben wurden.
Ein derartiges System entsprach voll den Moralvorstellungen der Viktorianischen Ära, in denen sie entstanden waren. Auch passten sie perfekt in die erzkonservative, authoritäre Gesellschaft Irlands, dominiert von der Römisch-Katholischen Kirche, die wiederum ein maßgeblicher Teil der Irischen Identität war.
Die Unabhängigkeit Irlands im Jahr 1922 stand unter dem Zeichen eines Neuanfangs. Die Irische Verfassung beinhaltete auch den Grundsatz der Gleichberechtigung. Die Frauen und Mädchen in den Magdalenenlagern waren hiervon ausgeschlossen, im Gegenteil sogar. Der Irische Staat unter der Fuchtel von Eamon de Valera war geprägt von einem erzkonservativen, katholisch geprägten Gesellschaftsbild. Die Macht von Organisationen wie den Magdalenenheimen wurde noch gestärkt. Sie wurden mit staatlichen Aufträgen versorgt, und auch mit immer neuen Insassen.
Der Irische Staat, ja die gesamte Irische Gesellschaft, nutzten die Lager als willkommene Möglichkeit, um all diejenigen loszuwerden, die nicht ins Bild passten. Frauen und Mädchen wurden eingeliefert, weil sie psychisch instabil waren, von ihren Familien verstoßen worden waren, obdachlos, aber auch weil sie außereheliche Beziehungen hatten, zu aufreizend, oder einfach zu hübsch waren. Man brauchte also noch nicht einmal aufmüpfig sein ,wie z.B. die Sängerin Sinead O'Connor, es reichte schon aus, gut auszusehen.
Familien, Priester, aber auch Gerichte, Psychiatrische Einrichtungen, Sozialdienste oder die Garda brachten immer neue Opfer in diese Lager. Und obwohl sich auch in Irland die Moralvorstellungen ab den 1960er-Jahren änderten, sah noch ein Regierungsbericht von 1978(!) vor, das Frauen, die aufgrund von außerehelichen Beziehungen schwanger geworden waren, für ein Jahr in diese Heime einzuweisen waren, um sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Die letzte dieser monströsen Einrichtungen, das Magdalenenheim in Waterford, schloss erst 1996 seine Pforten. Die Verdrängung dieses Schandflecks auf der makellos weißen, pardon, grünen Weste Irlands als gläubiges, aber offenes Wirtschaftswunderland dauerte noch weit über diesen Zeitpunkt hinaus an. Auch wenn die schrecklichen Bedingungen in diesen Lagern spätestens seit dem Film "die Unbarmherzigen Schwestern" einer breiten Öffentlichkeit bekannt waren, so wollte kaum jemand etwas gewusst haben, eine Aussage, die mir als Deutschem Staatsbürger schmerzlich bekannt vorkommt.
Erst in den letzten Jahren, und unter internationalem Druck, hat sich das offizielle Irland dazu durchgerungen, die Karten auf den Tisch zu legen. Ein Erster Untersuchungsausschuss aus dem Jahr 2009 hatte bereits erschütternde Tatsachen ans Tageslicht gebracht, war aber von der damaligen Regierung jedoch nicht weiter beachtet worden. Es folgten keinerlei Schritte als Reaktion auf den Bericht des Ausschussen.
Im Jahr 2011 wurde dann schließlich, auf Druck der Vereinten Nationen, ein Ausschuss unter dem Vorsitz des Senators Martin McAleese mit der Aufklärung der Staatlichen Verwicklung in die Lager beauftragt. Nach 18 Monaten wurde dieser Bericht am 5. Februar 2013 schließlich veröffentlicht. 
Heute war der Moment dann gekommen. Im Dail, dem Unterhaus des Irischen Parlaments, stand Enda Kenny, der Taoiseach, oder Regierungschef, für das Versagen der irischen Gesellschaft gerade. Es war eine Rede, die in meinen Augen durchaus mit dem Kniefall von Willy Brandt in Warschau gleichzusetzen ist. Er gestand ein, das Irlands Selbstsicht als gottgläubiges, gutes Land eine Fiktion war, und das dieser Staat ein "brutales, mitleidloses" Land war. Irland habe diese Frauen weggeschlossen weil es, als Gesellschaft, sein Gewissen weggeschlossen hatte.
So gut, so bewegend die Rede von Enda Kenny war, so sind es doch zwei Zitate seines Stellvertreters Eamon Gilmore, die mir am meisten im Gedächtnis geblieben sind:

"...Es gibt keine stärkere Blindheit, als diejenige die durch eine dominierende Ideologie, und einen unterwürfigen Staat aufgezwungen ist." 

"...das wir als Gesellschaft nie wieder an einer Hohen Mauer vorbei laufen werden, ohne zu fragen, was dahinter geschieht."

Diese beiden Zitate sollten für jeden Bürger eines zivilisierten Landes Mahnung und Aufforderung zugleich sein. Denn auch wenn die menschenverachtenden Knochenmühlen der Magdalenenheime mittlerweile Geschichte sind, ist die Kunst des Wegschauens in den Westlichen Kulturen, gerade auch in Deutschland und Österreich, weiterhin hoch entwickelt. Die Gesellschaft ist heute transparenter für Informationen, aber es gibt immer noch schwarze Löcher mitten in unserer Gesellschaft. Nehmen wir die psychiatrischen Kliniken, oder generell das psychiatrische Gesundheitssystem in Deutschland. Der Fall Gustl Mollath in Bayern ist ein gutes Beispiel. Wie viele psychisch kranke in unserer Gesellschaft sind tatsächlich krank, und wieviele werden einfach nur weggesperrt, weil sie lästig sind? Daran anschließend, wieviele Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wird, leiden wirklich an dieser Krankheit? De Sprunghafte Anstieg dieser Diagnose lässt zumindest vermuten, das diese Krankheit, und die damit zusammenhängende Medikamententherapie einfach nur benutzt wird, um Kinder ruhigzustellen, um die sich die Gesellschaft nicht kümmern will.
Und dann wären da noch die Mauern der Justiz. Damit meine ich nicht die Gefängnisse. Mein Interesse in diesem Zusammenhang gilt der Polizei. Immer wieder kommen Meldungen an die Oberfläche, die einen reflexhaft auf den Kalender blicken lassen. Wenn man sieht, das eine Polizeistreife zu viert auf einen U-Bahn-Fahrgast einschlägt, nur wegen seiner Hautfarbe, dann fragt man sich ob die Herren und Damen in Blau schon registriert haben, das wir mittlerweile im Jahr 2013 sind, und nicht mehr im Jahr 1939. Wenn man dann noch betrachtet, das immer mehr Menschen bei Lappalien auf die Wache gebracht werden, und diese nur schwer verletzt wieder verlassen, dann kann man die obigen Zitate von Eamon Gilmore nur als Aufruf zum Handeln sehen.
Ich halte es hierbei nicht mit der "F**k-die-Polizei"-Mentalität, die in einigen politischen Kreisen kursiert, aber ich komme nicht umhin, zu fragen, ob man insbesondere der Deutschen Polizei noch vertrauen kann. Es ist in meinen Augen höchste Zeit, hier genauer hinzuschauen, sowohl von offizieller Seite, die endlich eine Unabhängige Übergeordnete Stelle einrichten muss, um Polizeigewalt aufzuklären, als auch im Privaten Raum. Wenn ihr Polizisten im Persönlichen Umfeld habt, scheut euch nicht, kritische Fragen zu stellen, und auch nachzuhaken. Wenn ihr die Polizei rufen müsst, stellt sicher, das ihr mehrere Zeugen habt, und vermeidet ansonsten den Kontakt.
Irland hat heute einen Schritt in die richtige Richtung gemacht, in Richtung Vergangenheitsbewältigung, in Richtung Heilung, aber auch in Richtung Offenheit und in Richtung Ehrlichkeit. Auch in anderen Ländern, auch in Deutschland müssen derartige Schritte erfolgen, sonst sind diejenigen, die aufgrund der "Schau-Weg"-Mentalität bei uns gelitten haben, umsonst Opfer geworden.

Kommentare

  1. Schön geschrieben! Sehr gute Geschichtsstunde und dazu noch den Finger in eine wichtige Wunde gelegt, ohne dabei polemisch zu werden.

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