Der Krampf gegen das Virus - Irland, Deutschland und COVID-19

Dass ich es nie bereut habe nach Irland auszuwandern ist eigentlich kein großes Geheimnis. Dies gilt umso mehr seit dem Tod meiner Eltern, die für mich die letzte wirkliche Verbindung in mein Geburtsland darstellten. Das soll nicht heißen, dass hier in Irland alles Tipp-topp ist, ganz im Gegenteil. Von den unverschämten Mieten bis hin zum fragwürdigen öffentlichen Nahverkehr und einem anscheinend dauerhaft überforderten Gesundheitssystem gibt es so einige Baustellen auf der grünen Insel. Trotz all dieser Probleme hat sich jedoch gerade in den letzten Elf Monaten gezeigt, dass der Umzug nach Irland die richtige Entscheidung war.

Dies ist alles andere als zu erwarten gewesen. Wenn mir jemand noch im Februar 2020, als die Wolken einer drohenden Pandemie schon am Horizont aufzogen, gesagt hätte, dass Irland eine derartige Pandemie besser handhaben würde als Deutschland, ich hätte diese Person gefragt, was sie geraucht hat, und wo ich etwas von dem gleichen Stoff bekommen kann. Jetzt, im Februar 2021, wo wir uns mit erschreckend großen Schritten dem einjährigen Jubiläum des ersten Lockdowns nähern, ist jedoch genau das eingetreten. Irland steht, trotz seines chronisch schwächelnden Gesundheitssystems und einer krankhaft unentschlossenen Regierung deutlich besser da als Deutschland. Wie konnte so etwas kommen?

Der irische Weg

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir bis zurück zum Anfang der COVID-19-Krise in Europa gehen, und ja, ich werde hier COVID-19 oder SARS-CoV-2 benutzen und nicht das schrecklich unpräzise Corona, dass im deutschsprachigen Raum anscheinend so beliebt ist. Aber zurück zum Thema. Ich erinnere mich noch genau an den 12. März 2020, der Tag, an dem die COVID-19-Krise in Irland knallharte Realität wurde. Ich war an jenem Donnerstag wie üblich im Büro, den ganzen Morgen hatte es Gerüchte gegeben, dass die geschäftsführende Regierung um Taoiseach Leo Varadkar drastische Schritte einleiten würde, um ein Ausbreiten des SARS-CoV-2 Virus in Irland zu unterbinden. Am späten Vormittag dann wurde es offiziell, ab dem 13. März würde Irland in einen strikten Lockdown gehen, jeder der von zuhause arbeiten kann, solle dies tun. Mein Arbeitgeber ordnete für das gesamte Büro in Cork Home Office an, und als wir am Nachmittag das Büro verließen, hatten viele ein ungutes Gefühl. Der Lockdown wurde zwei Wochen später noch einmal drastisch verschärft, alle Geschäfte, die nicht der Grundversorgung der Bevölkerung dienten, wurden geschlossen, während gleichzeitig eine Bewegungssperre für nicht zwingend notwendige Aktivitäten von zwei Kilometern um den eigenen Wohnort angeordnet wurde.

Seit März 2020 ist dies mein Büro...

Während dieser ersten Phase der Krise mobilisierte die irische Regierung alle ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen, um die Krise so gut wie möglich zu meistern. Während parallel die Verhandlungen über eine neue Regierungsbildung liefen, Irland hatte im Februar 2020 ein neues Parlament gewählt, peitschte die geschäftsführende Regierung im Eilverfahren eine Reihe von Notgesetzen durch den Daíl, das Unterhaus des irischen Parlaments. Ein Verbot von Wohnungsräumungen, Unterstützungszahlungen für Betriebe, gesonderte Sozialleistungen für Menschen, die aufgrund der Pandemie arbeitslos oder krankgeschrieben wurden, Notfallvollmachten für die Garda, die irische Polizei, um die Bewegungsbeschränkungen durchzusetzen, all dies und mehr wurde bereits in den ersten Wochen des ersten Lockdowns auf den Weg gebracht.

Auch die Exekutive wurde aktiv. Die irische Polizei begann, die seit dem 19. März geltende Bewegungssperre zu kontrollieren. Den eindrucksvollsten Beitrag leistete jedoch das irische Militär. Bereits eine Woche nach der Ansprache von Leo Varadkar hatten die Defence Forces Operation Fortitude, die militärische Komponente der irischen Reaktion auf die Krise, aus der Taufe gehoben. Unter dem Kommando von Joint Task Force Fortitude liefen in den folgenden Tagen mehrere Kriegsschiffe der irischen Marine in den Häfen von Dublin, Galway und Cork ein, um dort als schwimmende Basis für COVID-19-Testzentren zu dienen. Gleichzeitig rückten im ganzen Land Pioniereinheiten aus, um in Gebieten mit schlechter Infrastruktur provisorische Testzentren einzurichten. Um die HSE, die chronisch überforderte Gesundheitsbehörde Irlands, zu unterstützen und gleichzeitig Krankenwagen für tatsächliche Notfälle freizuhalten, wurden Transporteinheiten der Armee abgeordnet, um Fahrdienste für COVID-19-Testkandidaten zu leisten, die selbst nicht zu einem der Testzentren fahren können. Dieser Teil von Operation Fortitude ist nach wie vor aktiv, wie ich im Oktober 2020 am eigenen Leib erfahren durfte. Die Irische Luftwaffe wiederum wurde, und wird nach wie vor vor allem für den Transport von Proben zwecks Analyse zu Laboren im Ausland, insbesondere Deutschland, eingesetzt, um das einzige virologische Testzentrum in Irland zu entlasten, wofür im April 2020 im Schnellverfahren eine vierte Pilatus PC-12NG erworben wurde, da die drei ursprünglich für Irland gedachten Flugzeuge aufgrund der Pandemie in Colorado festsaßen. Seit Juli sind nun alle vier Flugzeuge regelmäßig mit dem Transport von Proben beschäftigt, da das irische Laborsystem nach wie vor nicht mit dem Andrang klarkommt.

Ford Transit der Defence Forces, wie sie im Rahmen von Operation Fortitude zum Einsatz kommen.

William Murphy from Dublin, Ireland, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons


Aber auch ansonsten wurde bereits in den ersten Wochen der Pandemie hier in Irland viel in Bewegung gesetzt. In Zusammenarbeit mit den Regionalregierungen in den 26 Counties der Republik wurden Netzwerke zur Nachbarschaftshilfe aufgebaut, um zu verhindern, dass ältere oder isoliert lebende Menschen zu stark vereinsamen. Hierbei wurde auch an Post einbezogen, und deren Zusteller kurzerhand dazu abgeordnet wurden, auf ihren Zustelltouren nach eben jenen älteren Mitmenschen zu schauen, ihnen bei Bedarf Einkäufe oder Medikamente vorbeizubringen. Auch RTÉ, der öffentlich-rechtliche Fernsehsender Irlands passte sein Programm kurzerhand an, um zumindest eine gewisse Grundversorgung an Bildung für Schulkinder zur Verfügung zu stellen.

Und dann war da noch die Informationskampagne. Bereits wenige Tage nach dem Inkrafttreten des ersten Lockdowns erhielten alle Haushalte in Irland eine erste Broschüre mit Informationen zur aktuellen Situation. Dies erfolgte erneut nach der Verschärfung des Lockdowns und auch nachdem der Stufenplan zur Lockerung der Einschränkungen ausgearbeitet worden war. Jedes einzelne dieser Schreiben war in der gleichen Farbgebung und mit dem gleichen Branding aufgebaut wie die Online-, und Fernsehwerbespots, die Informationsdisplays in Einkaufszentren oder die Plakatwerbungen an Bushaltestellen und Bahnhöfen. Als dann im Sommer 2020 endlich die COVID-19-Tracker App verfügbar war, wurde auch diese mit dem gleichen Branding versehen.

Eine einheitliche Gestaltung macht das Infomaterial zum Thema COVID-19 klar erkennbar, egal ob es Informationsflyer sind, oder im Fall vom Dokument oben in der Mitte Leitfäden für COVID-Verdachtsfälle.

Auch Malbücher oder kostenfreie Postkarten von an Post gehörten zur Reaktion auf COVID-19

Im Sommer 2020 hatte Irland damit ein komplettes Arsenal an rechtlichen, sozialpolitischen und Informationstechnischen Instrumenten auf die Beine gestellt, um mit weiteren Wellen umzugehen. Als im Oktober 2020 dann die zweite Welle über Irland hereinbrach, konnte die neue Regierung um Taoiseach Micheál Martin auf diese Mittel zurückgreifen und auch der ausgearbeitete Plan für die COVID-19-Impfkampagne, die mittlerweile angelaufen ist, ist nichts weiter als eine Erweiterung dieses Toolkits. 

Dies soll nicht heißen, dass in Irland alles einwandfrei läuft, ganz im Gegenteil. Die HSE, die nationale Gesundheitsbehörde, war schon vor Beginn der Krise chronisch überfordert und unterbesetzt, etwas, was durch die Pandemie nicht wirklich besser wurde. Viele Krankenhäuser arbeiten am Rande des Zusammenbruchs und die Tatsache, dass sie überhaupt noch funktionieren wurde damit erkauft, dass praktisch alle nicht kritischen Patienten nach Hause geschickt und alle nicht zwingend notwendigen Operationen abgesagt wurden. Aufgrund der durch das Karfreitagsabkommen generell offenen Grenze zu Nordirland lassen sich Reiseverbote nur sehr schwer umsetzen, weshalb Irland bis vor kurzem praktisch keine ernstzunehmenden Maßnahmen gegen internationale Reise eingeführt hat. Auch greifen viele der weiter oben genannten gesetzlichen Initiativen nicht weit genug, um wirklich effektiv zu sein. Alles in allem ist Irland mit seinem Ansatz bis jetzt jedoch recht gut unterwegs.

Der Deutsche Ansatz


Bevor ich ins Detail gehe möchte ich eines vorweg nehmen. Ich bin zwar deutscher, aber ich lebe seit mittlerweile fast neun Jahren in Irland. Da sich auch mein Lebensmittelpunkt mittlerweile auf der grünen Insel befindet, habe ich Deutschland über die Jahre immer mehr aus den Augen verloren, erst recht seit dem Tod meiner Eltern 2017. Es kann daher durchaus sein, dass ich Nuancen der Lage in Deutschland nicht mitbekommen habe, und diese daher in meiner Analyse der Situation in Deutschland fehlen. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann werden Nuancen auch keinen Unterschied mehr machen. Zumindest von meinem Blickpunkt hier in Irland heraus sieht es nämlich so aus, als ob Deutschland jeden Fehler gemacht, der nur möglich war. Fangen wir mal ganz am Anfang an. 

Am Anfang war das Wort… Moment mal, zu weit zurückgespult. Bereits in den ersten Wochen der Krise zeigte sich, dass es praktisch unmöglich werden würde, eine koordinierte Reaktion auf die Pandemie auf die Beine zu stellen. Während in Irland Reservisten einberufen wurden und das ganze Land in einen Krisenzustand versetzt wurde, scheint man in Deutschland vor allem damit beschäftigt gewesen zu sein, sich unter den 16 Landeschefs die Verantwortung zuzuschieben. Deutschland ist schon historisch gesehen sehr dezentralisiert aufgestellt, und genau dieser Föderalismus macht eine koordinierte Reaktion schwierig, das verstehe ich. Trotzdem war bereits die Reaktion auf die erste Welle erschreckend unkoordiniert, teilweise selbst innerhalb der einzelnen Bundesländer. Dabei rede ich noch gar nicht von der Tatsache, dass diese dezentrale Vorgehensweise teilweise dafür sorgte, dass in verschiedenen Teilen eines Großraums verschiedene Regeln und Einschränkungen gültig waren, wie z.B. in Berlin, Hamburg, dem Rhein-Main-Raum oder auch dem Rhein-Neckar-Raum.

Was die Regeln an sich angeht, kann ich leider nicht viel sagen, da es im Gegensatz zu Irland praktisch keinerlei zentralisierte Informationsstelle gibt. Ich habe versucht, mich im Vorfeld dieses Posts so gut es geht in diese Regeln einzulesen, aber aufgrund dieses dezentralen Ansatzes, in Kombination mit der „wunderbaren“ Informationspolitik der lokalen Gesundheitsämter war dies ungefähr so angenehm wie der Versuch, sich mit einem rostigen Teelöffel das Hirn durch die Augen rauszukratzen. Praktisch die einzige bundesweit einheitliche Reaktion scheint die COVID-19-Warnapp zu sein, und auch diese nur, weil sie vom Robert-Koch-Institut veröffentlicht wurde. Dies ist umso ärgerlicher als eine einheitliche Designsprache keinerlei Einschnitt in die Befugnisse der Länder erfordert, sondern einfach eine informelle Absprache. Wie viel eine einheitliche optische Gestaltung ausmacht, sehe ich regelmäßig hier in Irland.

Und dann ist da noch die Umsetzung der jeweiligen Regelungen. Hier scheint die Exekutive salopp gesagt zu machen, was sie will. Maskenvorgaben scheinen nur halbherzig kontrolliert zu werden, während „Querdenker“ offenbar freies Spiel haben. Die Bilder, die im Sommer 2020 aus Berlin in die Welt gingen, waren einfach nur erschreckend, und es erscheint mir nicht so, als ob die Polizei in den einzelnen Ländern Konsequenzen aus diesem Totalversagen der Berliner Polizei gezogen hätte.

Hamburg im Sommer 2020 - Von einer Pandemie hat hier offenbar noch nie jemand gehört.

Ich will nicht bestreiten das ein derart "normales" Leben wie hier am Jungfernstieg durchaus positive psychische Auswirkungen hat. Ein zu langes Beharren auf diesem "normalen" Leben kann aber auch nach hinten losgehen.

Das soll nicht heißen, dass das deutsche Vorgehen keine Vorteile hätte. Ich war im August 2020 beruflich in Hamburg und die teilweise Normalität, die mir in Deutschland begegnete, war ein angenehmer Kontrast zu den nach wie vor recht strikten Vorgaben in Irland. Das gute Wetter während meines Besuchs hat dazu aber natürlich auch beigetragen. Deutschland war über einen längeren Zeitraum „funktionsfähig“ als Irland, was mit Sicherheit gerade für die psychische Gesundheit positive Auswirkungen hatte, trotz allem ist das Bild, dass Deutschland bietet, und während dieser ganzen Krise geboten hat, alles andere als gut. 

Fazit?

Wie bereits erwähnt ist dies eine rein subjektive Sichtweise, und ich will nicht bestreiten, dass diese auch teilweise aufgrund meiner irischen Perspektive etwas verschoben ist. Und ja, mir ist auch klar, dass die Reaktion in einem Land mit 4.8 Millionen Einwohnern anders aussehen kann als in einem Land mit 83 Millionen Einwohnern. Trotz allem sind die Unterschiede gravierend und umso erschreckender als dass Deutschland mit seiner hoch entwickelten wissenschaftlichen Infrastruktur in einer deutlich besseren Ausgangsposition war als Irland. Die COVID-19-Pandemie ist mit der Zulassung einer immer größer werdenden Anzahl an Impfstoffen in eine neue Phase eingetreten, was die Karten im Endeffekt neu gemischt hat. Der Umgang mit der Impfkampagne ist ein komplett anderes Thema, auf das ich hier nicht eingehen werde, da ich nicht möchte, dass mein Blutdruck in den vierstelligen Bereich wandert. Nichtsdestotrotz sollte man sich in Deutschland die Frage stellen, ob ein dezentralisiertes föderales System im heutigen Maße noch zeitgemäß ist, gerade im Krisenfall. Denn eines steht fest. Die nächste Pandemie wird kommen, und der nächste Virus könnte deutlich tödlicher sein als SARS-CoV-2. 

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