Die Rückkehr der Seevölker? - Gedanken zur aktuellen Flüchtlingswelle auf dem Mittelmeer

Kaum ein Thema ist in den Medien in den letzten Wochen und Monaten so hochgekocht, wie die andauernde Flüchtlingskrise im Mittelmeer. Kaum ein Tag, an dem nicht vermeldet wird, dass europäische Marinekräfte wieder einmal hunderte Flüchtlinge aus ihren teilweise wirklich lebensgefährlichen Kähnen und Flößen rausgefischt haben. Selbst die Irische Marine, weiß Gott keine beeindruckende Seemacht, hat in den knapp zwei Monaten ihres Einsatzes schon fast 3400 Menschen an Bord genommen. Die Zahlen sind so groß, dass der menschliche Verstand teilweise aussetzt.
Es erinnert mich teilweise an den Geschichtsunterricht im Gymnasium in Österreich, an eine absolut faszinierende Epoche der Antiken Geschichte: Den Ansturm der Seevölker.
Als kleine Auffrischung für diejenigen, deren Geschichtskenntnisse mit der Geburt von Justin Bieber aufhören: "Seevölker" ist ein Sammelbegriff für eine ganze Reihe von Angreifern, die im 12. Jahrhundert vor Christus über den östlichen Mittelmeerraum hereinbrachen, diverse mächtige Reiche der Antike, unter anderem das Reich der Hethiter, zerstörten, und selbst das Ägypten von Ramses III, das mit Abstand militärisch und wirtschaftlich stärkste Reich des Mittelmeerraums, in arge Bedrängnis brachten. Woher diese Seevölker kamen ist bis heute nicht ganz geklärt, vermutlich wurden sie durch eine Kombination aus langanhaltenden Hungersnöten und Politischen Unruhen aus ihren Heimatländern vertrieben, sicher ist dies jedoch nicht. 
Jedem, der halbwegs aufmerksam die Nachrichten verfolgt, sollte diese Lage vertraut vorkommen. Auch dieses mal wieder stammt ein beträchtlicher Teil jener Flüchtlingsmassen aus dem östlichen Mittelmeerraum, und wieder sind sie durch politische Unruhen aus ihrer Heimat vertrieben worden. Im Gegensatz zu dem, was viele Pegidaner behaupten, enden hier die Gemeinsamkeiten, haben wir es doch nicht mit mordenden und brandschatzenden Massen zu tun. Trotzdem wird es hier einmal Zeit, das Europa seinen fetten Wohlstandsarsch hoch bekommt, und ausnahmsweise mal aktiv wird. 
Und warum?
Warum sollte sich Europa um Menschen scheren, die noch nicht mal in europäischen Gewässern sind, sondern oftmals irgendwo vor der Küste Libyens aus dem Meer gefischt werden? Die wollen doch eh alle nur unser Geld, und uns auf der Tasche liegen. Dieser Tenor ertönt in der öffentlichen Debatte immer wieder. Die Antwort darauf ist in meinen Augen einfach: Weil es Menschen sind! Ich persönlich habe es satt, das immer noch anhand willkürlich auf Karten gezeichneter Linien und von Menschenhand geschaffenen Konstrukten, namentlich Staaten, entschieden wird, wer erwünscht ist, und wer nicht. Auf diesem Planeten wird es langsam zu eng für solche Spielchen. Außerdem hat jeder Mensch das Recht darauf, nach einem besseren Leben zu streben, und zwar unabhängig davon, wo er herkommt. 
Man muss dazu allerdings auch sagen, das die Infrastruktur in Europa, so wie sie momentan aufgebaut ist, in feinster Weise dazu geeignet ist, die Menschenmassen aufzunehmen, die momentan allein im Mittelmeerraum und im nördlichen Afrika in Bewegung sind. Insofern ist es unvermeidlich, dass der Strom an Flüchtlingen und Einwanderern in kontrollierte Bahnen gelenkt werden muss. Diese Aufgabe wird dabei an Aufwand an den Wiederaufbau Europas nach dem 2. Weltkrieg, oder die Integration der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in das Europäische Wirtschaftssystem herankommen, und doch führt nichts daran vorbei, wenn man vermeiden will, dass die sozialen Spannungen in Europa sich in einem erneuten katastrophalen Konflikt entladen.
Okay, okay, schon klar. Und was soll man unternehmen?
Einiges, es gibt hier wirklich verdammt viel zu tun, und zwar sowohl im Mittelmeer selbst, als auch hier in Europa oder, soweit möglich, in den Ursprungsländern der Flüchtlinge. Und ja, es sind Flüchtlinge, unabhängig ob sie aus Wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen, oder vor Krieg oder Vertreibung fliehen. Alles sind legitime Gründe, nicht zuletzt weil ich selbst hier in Irland auch einer dieser "Wirtschaftsflüchtlinge" bin, und nach Irland gezogen bin, weil in Deutschland das Ende der Fahnenstange für mich erreicht war. 
Was ist nun konkret zu unternehmen? Nun, das offensichtlichste ist die aktuelle Grenzschutzmission von Frontex im Mittelmeer, Operation Triton. Diese ist, man muss es leider sagen, in ihrer aktuellen Form absolut untauglich. Ihre Ausstattung mit zwei bis drei Schiffen, und zwei Seeaufklärungsflugzeugen ist unzureichend, und das Operationsgebiet viel zu begrenzt. Hier muss in meinen Augen angesetzt werden. Operation Triton wird, so sehr das einigen auch missfallen wird, zu einer dauerhaften Mission ausgedehnt werden müssen, die noch dazu auch räumlich massiv vergrößert werden muss. So brutal es klingt, aber die komplette Länge des Mittelmeeres, von Gibraltar bis Zypern, wird patrouilliert werden müssen, wenn man verhindern will, dass die Schlepper sich neue Lücken suchen, um Flüchtlinge einzuschleusen. Gleichzeitig wird dieses Gebiet durch Luft-, und Seestreitkräfte aller EU-Staaten kontrolliert werden müssen, dies allein den Mittelmeeranrainern zu überlassen ist einfach nur schäbig und läuft dem Prinzip der Solidarität, das eine der Grundfesten der EU ist, zuwider.
Das Belgische Kriegsschiff Godetia beim anlanden von Flüchtlingen in Crotone, Italien. Derartige Operationen werden zu einer dauerhaften Institution in Europa werden müssen.

Wichtig ist auch, das dieser Patrouillenverband nicht nur passiv handeln muss. Auch wenn es diversen Leuten nicht passt, so wird die aktuelle Flüchtlingswelle doch zu einem beträchtlichen Teil von kriminellen Schleusern am laufen gehalten. Und auch wenn die Flüchtlinge selbst durchaus von Europa aufgenommen werden sollen, so sollte man auf jeden Fall verhindern, das diese Schleuser davon profitieren, und eventuell noch Drogenkuriere, etc. unter die Flüchtlinge mischen. Die einfachste Methode dafür ist die Versenkung jener Boote, mit denen die Schlauchboote, Holzkähne, etc. ins Mittelmeer hinausgeschleppt werden. Auf einem Infrarotsichtgeraet sollten derartige Schleppverbände leicht erkennbar sein, was die Identifizierung der Schlepper einfach machen sollte.
Neben eine erheblich verstärkten Operation Triton muss auch sichergestellt werden, das die Flüchtlinge zentral erfasst und gleichmäßig über Europa verteilt werden. Nach dem momentanen System, dem Dubliner Abkommen, ist der EU-Mitgliedsstaat, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betritt verantwortlich dafür, den Asylanspruch zu überprüfen. Man muss sich nur einmal die Bilder am Hafen von Calais oder an den Italienischen Außengrenzen anschauen, das dies momentan hinten und vorne nicht klappt. Nach diesen Regeln können sich nämlich die Nordeuropäischen Industriestaaten schön rausreden, und den Ankunftsstaaten, wie Malta und Italien den ganzen Schlamassel überlassen, die so oder so schon wirtschaftlich arg labil da stehen. Mit Europäischer Solidarität hat dies nichts mehr zu tun.


Wenn man bedenkt, wie lange sich im Süden Italiens schon Bilder wie diese aus dem letzten Jahr abspielen, wird einem bewusst, das hier massive Anstrengungen durch alle EU-Staaten erforderlich sind, um diese Mengen an menschen in den Griff zu bekommen.

Was hier viel mehr erforderlich ist, sind ein europäischer Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge, sowie dezidierte, durch die EU finanzierte Aufnahmezentren entlang des kompletten Mittelmeer-Perimeters. Diese müssen dabei so aufgebaut sein, das Asylbewerber während des gesamten, teilweise monatelangen Asylrozesses, menschenwürdige Unterkünfte und Umgebungen haben, ebenso wie gesicherten Zugang zu Rechtsbeistand, Krankenversorgung, und Bildung. Außerdem sollten diese Zentren selbstverständlich in der Lage sein, bei jedem Asylbewerber einen ausführlichen Background Check durchzuführen. 
Auch die Unterbringung nach dem erfolgreichen Ausgang des Asylverfahrens muss neu geregelt werden. Gerade in dieser Beziehung ist europaweit in den letzten Jahrzehnten diverses schief gelaufen. Es ist ein offenes Geheimnis das Integration am besten läuft, wenn jeweils nur kleine Gruppen in eine Gemeinde ziehen. Was wurde aber in Deutschland und vielen anderen Ländern über Jahrzehnte gemacht? Man hat Zuwanderer und zuvor Gastarbeiter zuerst in Lagern, und dann später in immer den gleichen Problemvierteln zusammengepfercht, anstatt sie über die diversen kleinen Städte und Dörfer zu verteilen, wo sie in aller Regel bereits nach wenigen Jahren voll in die Gemeinschaft integriert gewesen wären. Durch die immer stärker forcierte Konzentration wurde hingegen die Entstehung von Parallelgesellschaften geradezu gefördert.
Es sind diese "besorgten Bürger", die das größte Hindernis für eine erfolgreiche Integrationspolitik sind.

Dies muss geändert werden, allein schon um zu verhindern, das radikalisierende Elemente noch mehr junge orientierungslose Opfer in ihre Finger bekommen. Dazu gehört aber auch, das dem immer stärker aufkeimenden Rassismus endlich Kontra gegeben wird, und zwar nicht nur von den üblichen Verdächtigen, sondern auch von den politischen Kräften, die sich rechts der Mitte, aber immer noch im demokratischen Spektrum befinden. Integration kann nicht klappen, wenn das Empfangskomitee für eine Flüchtlingsfamilie mit Messern und Baseballschlägern wartet.
Die beiden oben genannten Punkte sind jeweils zwar wichtig, aber im Endeffekt behandeln sie nur die Symptome. Der letzte Punkt dürfte auch der schwierigste werden, nämlich den Flüchtlingsstrom an der Quelle zu stoppen, oder zumindest abzuschwächen. Dies bedeutet in den Ursprungsländern aktiv zu werden, um die Zuwanderungsströme bereits dort in legale und kontrollierbare Bahnen zu lenken. Einfach nur zu behaupten, das man ja zur Botschaft gehen könne, um ein Visum zu beantragen, ist dabei eindeutig zu einfach gedacht und kurz gegriffen. Bei Flüchtlingen aus Schwellenländern wie Indien, Algerien, oder Marokko mag dies noch praktikabel sein, wenn man sich jedoch die meisten der Ursprungsländer der aktuellen Flüchtlingswelle anschaut, Eritrea, Gambia, den Sudan, oder die Elfenbeinküste, so kommt man nicht umhin, das die konsularische Infrastruktur dort einfach nur unterirdisch ist. Und da sind Konfliktherde wie Syrien, Afghanistan, der Irak, Jemen, Libyen, oder Somalia noch gar nicht mit einbezogen, Länder, in denen entweder keine Ausländischen Vertretungen mehr in Betrieb sind, oder wo die reelle Gefahr besteht, dass du allein schon deswegen in die Luft gejagt wirst, weil du vor einer Auslandsvertretung in der Schlange stehst.
Unabhängig davon gibt es in keinem dieser Länder ein vernünftiges Netz an Konsulaten in den "Provinzen", was es potentiellen Einwanderern ermöglichen würde, den legalen Weg überhaupt in Betracht zu ziehen. Hier wäre also eine Ausdehnung des Konsulatsnetzes, oder alternativ der Aufbau von "Einwanderungsbüros", die die Vorarbeit für einen Visumantrag übernehmen können, ein Schritt, um den Schleusern den Hahn abzudrehen.
Über kurz oder lang wird aber nichts drum herum führen, dafür zu sorgen, das die Menschen in ihren Heimatländern mehr Möglichkeiten haben, sich eine Zukunft aufzubauen. Das bedeutet einerseits diplomatischen Druck auf die Länder auszuüben, die ihre Bevölkerung mit allen Mitteln unter Kontrolle behalten wollen, wie Ägypten, oder Eritrea, und andererseits auch die bisherige Entwicklungshilfepolitik komplett auf den Prüfstand zu stellen, und zu überdenken. Das bisherige System scheint ja nicht mehr zu laufen. Vor allem heist es aber auch, mit allen Mitteln militärische Konflikte und das Vordringen radikaler Elemente zu verhindern. 
Es ist also viel zu tun, genau so, wie dies auch viel zu lesen war. Mit diesen Methoden sollte ein großer Knall jedoch abzuwenden sein. Dies kann jedoch nur funktionieren, wenn alle erwähnten Schritte auch tatsächlich in vollem Umfang durchgeführt werden. Wer sich nur die Rosinen herauspickt, die zu seiner Linie passen, der wird genau so scheitern wie diejenigen, die stur darauf pochen, die Grenzen dicht zu machen, und alle fremd wirkenden rauszuschmeißen. Bei so einer komplexen Situation kommt man mit vermeintlich einfachen Lösungen nicht weiter, ebenso wenig wie mit Stammtischparolen. Man kann nur hoffen, das es in Europa noch genug Menschen gibt, die dies verstehen.

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